Das Bundesverfassungsgericht erklärte im Februar 2020 den § 217 StGB, der bis dahin die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid verboten hatte, für nichtig. Somit steht die Inanspruchnahme einer Hilfe zur Organisation und Durchführung der Selbsttötung jedem Menschen zu. Die Möglichkeit zur Beendigung des Lebens mit Hilfe Dritter gehöre zur Freiheit des Menschen. Gesetzgebungsverfahren im Bundestag, die die Suizidhilfe regulieren sollen, sind gescheitert. Daher fühlen wir als Städtische Pflegeheime Esslingen uns aufgefordert, selber Position zu beziehen, wie wir mit der Suizidhilfe umgehen wollen. Dazu haben wir[1] uns in einem längeren und in die Tiefe gehenden Prozess[2] verständigt und sind zu den folgenden Einsichten und zu folgender Haltung gekommen, die wir in der Folge mit allen Mitarbeitenden der Städtischen Pflegeheime kommuniziert haben und die nunmehr verpflichtend sind für alle, die haupt- oder ehrenamtlich in den Städtischen Pflegeheimen Esslingen tätig sind und tätig sein werden.
Seit Jahrzehnten bieten die Städtischen Pflegeheime Esslingen mit nunmehr fünf stationären Einrichtungen (Obertor, Berkheim, Hohenkreuz, Pliensauvorstadt, Oberesslingen) Orte zum Leben und zum Sterben an für Menschen, die nicht mehr zuhause leben können. Als kommunales Unternehmen verstehen wir unser umfassendes Angebot für pflegebedürftige Menschen in erster Linie als engagierten Beitrag zur Daseinsfürsorge. So besteht keine Absicht, Gewinne zu erwirtschaften. Wir garantieren, dass alle Einnahmen für unsere Pflegeheime verwendet werden und den Bewohner:innen zugutekommen. Unsere Mitarbeiter:innen sind für ihre Aufgaben umfassend qualifiziert und orientieren sich an einer personzentrierten, bedürfnisorientierten Pflege und hospizlich-palliativen Sorge. Dafür bilden wir uns ständig fort und weiter und reflektieren unsere Arbeit miteinander. Unsere Mitarbeiter:innen werden als Beschäftigte im öffentlichen Dienst nach Tarif fair und gerecht vergütet.
Unser Selbstverständnis
Unsere Häuser sind offene Häuser. Die Vernetzung und Kooperation unserer Heime mit anderen Dienstleistern in der Stadt, dem Gemeinwesen, mit den Stadtteilen, den Kirchengemeinden, vielen aktiven Gruppen und nicht zuletzt mit den Bürgerinnen und Bürgern in der Stadt und den Stadtteilen hat für uns große Bedeutung.
Wir unterstützen die Bewohner:innen dabei, ihre gewachsenen, vertrauten Beziehungen und Kontakte weiterhin zu pflegen. Familienangehörige, Freundinnen und Freunde, Nachbar:innen und Bekannte sind jederzeit bei uns herzlich willkommen. Weil wir wissen, wie wichtig menschliche Beziehungen im Altern und im Sterben sind, ermöglichen wir ehrenamtliche Besuchsdienste, wo es gewünscht ist.
Sterbe- und Todeswünsche unserer Bewohner:innen
Es ist uns wichtig, dass unsere Bewohner:innen ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich und ihr Sterben behütet und menschlich und professionell umsorgt erleben können. Unsere Erfahrung zeigt uns immer wieder, dass Menschen in Pflegeheimen den Wunsch ausdrücken, nicht mehr weiterleben, sondern sterben zu wollen. Menschen bringen diesen Wunsch mit oder auch ohne Worte zum Ausdruck, indem sie etwa die Aufnahme von Essen einstellen, das Essen und manchmal auch das Trinken verweigern. Solche Sterbe- und Todeswünsche drücken die individuelle Auseinandersetzung mit dem Lebensende aus.
Unsere Mitarbeiter:innen haben Erfahrung, damit umzugehen und Expertise, darauf einzugehen. Wir nehmen diese Sterbe- und Todeswünsche ernst, geraten nicht in Panik und übergehen sie nicht sprachlos. Wir sprechen sie an und helfen dabei, sie auszusprechen und zu verstehen.
Wir sprechen deshalb auch mit Angehörigen und Bezugspersonen darüber und mit unseren Kolleg:innen. Wir haben immer die Absicht, Ängste und Sorgen zu nehmen, zum Beispiel vor Schmerzen, vor dem Gefühl, nur noch eine Last für andere zu sein oder vor dem Verlust der eigenen Lebenserinnerung und den tiefgreifenden Veränderungen, die sich gesundheitlich und existenziell in dieser Lebensphase ergeben können. Wir lassen Menschen gerade dann und in solchen schweren Zeiten ihres Lebens nicht alleine. Wir lassen sie spüren, dass ihr Leben Würde und Wert hat, indem wir mit ihnen in Beziehung bleiben. Darin spiegelt sich unser Verständnis von verlässlicher Begleitung unserer Bewohner:innen im Leben und im Sterben.
Wir wissen auch: Jeder Sterbewunsch, jeder Todeswunsch hat eine Geschichte im jeweiligen Leben. Wir sehen unsere Aufgabe in der Altenhilfe darin, Menschen in ihrer Einmaligkeit und in ihrer Lebensgeschichte zu verstehen. Manchmal kann das auch bedeuten, Menschen vor sich selbst zu schützen. Darum sind vorbeugende Schutzkonzepte (Suizidprävention) wichtig und notwendend, etwa verzweifelte und vereinsamte Menschen dabei zu unterstützen, wieder Orientierung für ihr Leben zu erschließen, damit sie ein wenig Lebensmut für den nächsten Tag schöpfen, wirtschaftlich, seelisch, sozial und existenziell Halt finden. So lassen sich in Beziehungen durch offene Gespräche Wege finden, ein vielleicht eingeschränktes und dennoch selbstbestimmtes und würdiges Leben weiterleben zu können.
Unsere hospizlich-palliative Sorge im Umgang mit Todeswünschen
Wir haben Wissen und Erfahrungen aus der hospizlichen und palliativen Sorge und Versorgung in unsere Häuser übersetzt und integriert. Sterben verstehen wir nicht als Krankheit, sondern als das natürliche Ende unseres Lebens. Wir möchten Bedingungen schaffen, die den Vorstellungen und dem Willen des betroffenen Menschen für sein Sterben entsprechen. Wir haben diese Aufgabe in unserem „Palliativleitfaden“ formuliert bzw. Möglichkeiten für alle Mitarbeiter:innen eingeführt, die wir in der Praxis der Pflege und der Sorge umsetzen und ständig weiterentwickeln:
Wir bemühen uns, Leiden zu lindern und handeln dabei gemäß der Weltgesundheitsorganisation, das Sterben weder zu beschleunigen noch zu verlangsamen. Wir wissen zum Beispiel auch, dass nötige Medikamente, die zur Symptomlinderung eingesetzt werden, das Sterben vielleicht früher herbeiführen können und ein schnellerer Tod die Folge sein kann. Unsere Ethik und das deutsche Strafrecht verpflichten uns, keine Maßnahmen zu ergreifen, durch die der Tod direkt erfolgt (aktive Sterbehilfe). Wenn Menschen sich gegen lebenserhaltende Maßnahmen entscheiden (z.B. gegen Antibiotikagaben bei Lungenentzündungen), folgen wir ihrem zuvor erklärten Willen und unterlassen maximale medizinische Maßnahmen. Palliative Medizin und hospizlich-palliative Pflege bieten auch dann Hilfe und Linderung. Wir sind uns dabei der Grenzen unseres Handelns bewusst – nicht immer können wir Leid gänzlich verhindern in einer Lebenssituation, die von Alter, Krankheit und dem nahenden Sterben geprägt ist. Doch wir können im Wechsel mit den Angehörigen eine zuverlässige Begleitung anbieten, z. B. durch Ehrenamtliche unserer Einrichtungen und des hiesigen ambulanten Hospizdienstes.
Assistenz zum Suizid
Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2020 entschieden, dass die Freiheit des Menschen auch die Freiheit zur Selbsttötung (Suizid) einschließt. Daher müsse es jedem Menschen in der Bundesrepublik Deutschland möglich sein, mit Hilfe anderer (Suizidassistenz) sein Leben zu beenden, sofern der Entschluss ohne kognitive oder psychische Beeinträchtigungen zustande kam, frei von äußerem Druck getroffen wurde und anhaltend ist. Es bedarf keiner „materiellen Kriterien“, also keiner schwerwiegenden Erkrankung oder einer anderen Begründung für den Wunsch zu sterben. Suizidassistenz bedeutet konkret, dass der sterbewillige Mensch ein Medikament zur Verfügung gestellt bekommt, welches er sich selbständig zuführen können muss. Die sogenannte Tatherrschaft muss bei ihm selber liegen – es darf ihm niemand helfen, z. B. an seiner Stelle den Becher mit dem tödlichen Medikament an den Mund zu führen oder die Infusionsleitung zu öffnen.
Wir Mitarbeiter:innen der Städtischen Pflegeheime Esslingen sehen es nicht als unsere Aufgabe, Menschen einen Suizid zu empfehlen oder ihnen zum Suizid zu verhelfen und in der Suizidhandlung zu unterstützen.
Wir hören zu, wo Bewohner:innen Lebensmüdigkeit und Sterbe- oder Todeswünsche äußern. Wir versuchen herauszufinden, welche Motive und Gründe dafür geltend gemacht werden. Solche Situationen sind für uns ein Anlass, uns zusammenzusetzen, um in ethischen Beratungsgesprächen mit unseren Ethikberatungsteams (EBT) mit allen Beteiligten einen guten Umgang zu finden. In diesen Gesprächen mit den Bewohner:innen, ihren Bezugspersonen und unseren beteiligten Mitarbeiter:innen ist es für uns selbstverständlich, dass wir Überlegungen zum Suizid nicht bewerten und niemanden deshalb abwerten. Menschen, die sich für einen solchen Schritt entscheiden, sind häufig zutiefst verzweifelt, oft vereinsamt, fühlen sich wie in einer Sackgasse. Manchmal haben sie auch eine nüchterne Bilanz ihres Lebens vorgenommen und eine klare Entschiedenheit für diesen Weg. All dies gilt es zu sehen und damit umzugehen.
Aber: Die Fürsorge für unsere Mitarbeiter:innen gebietet uns, dass sie nicht in Situationen kommen sollen, in denen die Assistenz zum Suizid als „inklusive Dienstleistung der Städtischen Pflegeheime“ von ihnen erwartet werden kann. Wir wissen, dass Suizidhandlungen bei Beteiligten meist schwerwiegende psychische und soziale Folgen haben können, manchmal Traumata hinterlassen. Dieser Dynamik möchten wir unsere Mitarbeiter:innen nicht aussetzen, zumal wir keine gebotenen Möglichkeiten der therapeutischen Nachsorge anbieten könnten. Wir sehen unsere originäre Aufgabe in der Hilfe zum Leben bis zuletzt. Wir bemühen uns, diesen Anspruch gerade in eingeschränkten und belastenden Situationen, wie Alter und Krankheit sie hervorbringen können, einzulösen. Wir wissen um die Möglichkeiten und um die Wirksamkeit unserer hospizlich-palliativ ausgerichteten Sorgearbeit und können versichern, dass wir diese zu jeder Zeit verlässlich anzubieten vermögen, um unsere Bewohner:innen und Mitarbeiter:innen zu schützen.
Auch für die Mitbewohner:innen in unseren Häusern sehen wir uns in einer Schutz- und Fürsorgeverantwortung. Würden unsere Einrichtungen zu Orten gewohnheitsmäßiger Suizidassistenz werden, befürchten wir, dass dies verstörend und irritierend auf Bewohner:innen, ihre Angehörigen und auch auf unsere Mitarbeiter:innen wirken kann. Mitbewohner:innen würden sich womöglich zu fragen beginnen, ob sie anderen mit der Beendigung ihres Lebens nicht auch einen Dienst erweisen würden, da eines der häufigsten Motive für die Suizidassistenz darin liegt, „anderen nicht zur Last fallen zu wollen“.
Beschäftigte der Städtischen Pflegeheime Esslingen bieten keine Begleitung beim assistierten Suizid an, auch nicht bei ausdrücklichem Wunsch von Bewohner:innen, Kurzzeitpflegegästen oder Tagesgästen.
Die Verantwortung für die Vorbereitung, Organisation und Durchführung der Suizidhandlung sehen wir allein bei der suizidwilligen Person. Die Unterstützung einer Selbsttötung, z. B. in Form der Weitergabe von Informationen über Sterbehilfevereine, ist unseren Mitarbeiter:innen daher grundsätzlich nicht erlaubt. Wir vermitteln keine Kontakte zu entsprechender Assistenz oder zu Sterbehilfevereinen, weil wir die Tatherrschaft und die Autonomie in der Suizidhandlung und ihrer Vorbereitung in der Verantwortung der betroffenen Person sehen.
Ethikberatungsteam
Es wird Menschen geben, die selber nicht in der Lage sind, sich ihre Suizidassistenz zu organisieren und niemanden aus ihrem persönlichen Umfeld darum bitten können. Sie wenden sich möglicherweise an Mitarbeiter:innen. In solchen und ähnlichen Situationen haben unsere Mitarbeiter:innen die Verpflichtung und die Bewohner:innen die Möglichkeit, das Ethikberatungsteam einzuberufen, um einen für alle tragbaren Umgang zu finden.
Es ist zudem die Aufgabe aller Mitarbeiter:innen, aufmerksam hinzuhören, wenn Bewohner:innen einen Sterbe- oder Todeswunsch äußern und dies ebenfalls einem Mitglied des Ethikberatungsteams zu berichten.
Das Ethikberatungsteam besteht in jedem Pflegeheim aus der Heimleitung, der Pflegedienstleitung und einer Mitarbeiter:in des Sozialdienstes. Das Ethikberatungsteam selbst kann von Bewohner:innen, Angehörigen. Betreuenden und behandelnden Ärzt:innen, jeder Mitarbeiterin einberufen werden und berät in jedem Einzelfall das weitere Vorgehen (z.B. die Durchführung einer Fallbesprechung oder die Hinzuziehung von weiteren externen oder internen Beteiligten).
Die Mitglieder des Ethikberatungsteams sind in jeder Einrichtung der Städtischen Pflegeheime bekannt zu machen.
Als Städtische Pflegeheime Esslingen haben wir uns in einem längeren Beratungsprozess und nach sorgfältiger Abwägung auf diese Haltung und dieses Vorgehen verständigt.
Esslingen, im Juli 2023
Thilo Naujoks, Geschäftsführer
Interne Grundsätze der Städtischen Pflegeheime Esslingen zum Umgang mit Suizidwünschen:
- Wir haben ein breites und dennoch abgegrenztes Hilfeangebot. Die Organisation und Hilfe zum Suizid gehört nicht dazu. Wir beraten im Sinne von Palliative Care und arbeiten dafür im Team mit unserem Palliativleitfaden und Ethikgesprächen. Wir stimmen uns laufend mit unseren Kooperationspartner:innen über die Möglichkeiten der hospizlich-palliativen Sorge ab.
- Es ist haupt- und ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter:innen der Städt. Pflegeheime Esslingen grundsätzlich nicht erlaubt, sich an der Organisation, Durchführung oder Begleitung einer Selbsttötung zu beteiligen. Das bezieht sich auf alle unsere Bereiche: Tagespflege, Kurzzeitpflege, Langzeitpflege.
- Haupt- und ehrenamtlich tätige Mitarbeiter:innen aller Bereiche der Städt. Pflegeheime Esslingen wenden sich an ihre Vorgesetzten, wenn sie Kenntnis davon bekommen, dass eine Bewohnerin/ein Bewohner eine Selbsttötung plant. Sie lassen sich nicht als Geheimnisträger:innen binden, sondern sind verpflichtet, diese Informationen umgehend intern weiterzugeben. Das entbindet uns nicht automatisch von unserer juristischen Schweigepflicht.
- Das Wissen um eine Selbsttötungsabsicht darf und muss an Dritte außerhalb unserer Einrichtungen weitergegeben werden, wenn die betroffene Person damit einverstanden ist oder eine konkrete Gefahr für das Leben Dritter besteht (z. B. gemeinschaftlicher Suizid unter Ehepartnern) oder wenn Zweifel bestehen, dass die Person freiverantwortlich und freientschieden handelt.
- Die Aufnahme in eine unserer Einrichtungen zum Zwecke der Selbsttötung ist ausgeschlossen. Entwickelt sich der Wunsch während des Aufenthaltes, so beraten wir zu unseren Angeboten, beteiligen uns jedoch nicht an der Organisation oder Durchführung der Suizidassistenz.
Der Prozess des Umgangs mit Suizidwünschen wird in den Palliativleitfaden aufgenommen und allen Mitarbeiter:innen zur Kenntnis gegeben.
[1] Folgende Mitarbeitende waren beteiligt: Jennifer Czommer, Jasmina Hasan, Alfred Jörke, Ludmilla Keilmann, Soultania Kaloudi, Niko Merthan, Jana Munz, Alexander Musse, Thilo Naujoks, Jennifer Papst, Katharina Patt-Matzner, Paul Rockel, Stefanie Sbroggio, Silvio Schuster, Rainer Wirth, Torsten Ziegler.
[2] Der Prozess wurde mit freundlicher Unterstützung der Lechler Stiftung Stuttgart möglich. Im Zeitraum von September 2022 bis November 2023 berieten und begleiteten Prof. Dr. Andreas Heller, Universität Graz, und Susanne Kränzle, MAS Palliative Care, Gesamtleitung Hospiz Esslingen, die Städtischen Pflegeheime Esslingen dazu.